50 Jahre Frauenstimmrecht

1974: Ablaufschema für die computergestützte Wahlauszählung (Foto: Stadtarchiv Winterthur)

ERROR 1974

Die Computer-Panne von Winterthur

Die Annahme des Frauenstimmrechts bedeutete eine enorme logistische Herausforderung für die Stadtverwaltung. Um mit der bevorstehenden Wahlzettelflut im Hinblick auf die Gemeinderatswahlen von 1974 fertig zu werden, setzte die Stadt Winterthur auf modernste Computertechnik – und erlebte eine böse Überraschung.

Von Nadia Pettannice

Bei der Stadtverwaltung löste die Annahme des Frauenstimmrechts einiges an Kopfzerbrechen aus. Denn waren 1970 rund 23’800 Bürger stimmberechtigt – und die Wahlbüros damit bereits am Anschlag – waren es nun rund 53’500. Problematisch war dies vor allem im Hinblick auf die bevorstehenden Gemeinderatswahlen von 1974. Dort mussten 60 Ratssitze vergeben werden. Zu den Lieblingshobbies der hiesigen Wählerschaft gehörte das Panaschieren und Streichen von Kandidaten: Der Landbote rechnete vor, dass die Stimmzähler/innen so möglicherweise eine astronomische Zahl von rund 750 000 Namen händisch und fehlerfrei übertragen und prüfen müssten.

Um die Wahlbüros zu entlasten, setzte die Organisationsabteilung deshalb erstmals in der Geschichte der Stadtverwaltung auf ein computergestütztes Auszählverfahren. Der Clou an der Sache war, dass sich für die Wählerinnen und Wähler nichts ändern sollte. Sie würden weiterhin den gewohnten Wahlzettel erhalten, während aber die Wahlbüros auf der anderen Seite derart entlastet sein würden, dass «die übernächtigten Wahlbüromitglieder» ab sofort «der Vergangenheit angehören». Der Plan sah vor, dass sämtliche Abstimmungsresultate am Dienstagmorgen nach dem Wahlsonntag vorliegen würden.

Zu diesem Zweck übernahm Winterthur ein von der Firma Sperry UNIVAC hergestelltes Programm, das schon in Schaffhausen erfolgreich im Einsatz gewesen war. In den 1970er-Jahren waren seriell produzierte Computer noch ein klitzekleines bisschen teurer als heute: Das Computermodell UNIVAC 1108 kostete damals etwa 1.3 Millionen US-Dollar. So ein Teil besassen deshalb nur Grossfirmen wie die Rieter. Der Konzern gab der Stadt Winterthur die Erlaubnis, ihr Gerät für die Wahlauszählung zu benutzen und via Telefonleitung mit dem eigenen kleinen UNIVAC 1005 im Stadthaus zu verbinden. Damit kam also doppelte Rechenpower zum Einsatz. Der Rieter-Grosscomputer in Töss kontrollierte und speicherte die übermittelten Daten, erstellte Statistiken und schickte Fehlermeldungen ins Stadthaus, während die vertraulichen Daten nur innerhalb des Stadthauses verarbeitet wurden. So wurde der Datenschutz gewahrt.

Damit die Computer aber überhaupt arbeiten konnten, mussten alle Wahlzettel erst in den Wahlbüros bereinigt und dann von rund 40 Datentypistinnen auf Lochkarten übertragen werden. Am 17. März 1974 war es soweit: Das Winterthurer Stimmvolk wählte ihren Gemeinderat. Die Computer machten sich ans Werk. Trotz kleiner Kinderkrankheiten hatte der Rieter-Computer alle Berechnungen bis am Dienstagmorgen um 05:00 abgeschlossen. Doch dann kam es zum Desaster: Allen Verantwortlichen war offenbar entgangen, dass ein Rieter-Mitarbeiter frühmorgens routinemässig die Daten auf dem Massenspeicher löscht, damit das Gerät für den kommenden Tag bereit ist. Nichts Böses ahnend ging der EDV-Spezialist seiner Pflicht nach und weg waren eine Viertelmillion Wahldaten – denn auf eine doppelte Speicherung hatte man verzichtet.

Jetzt war Feuer unter dem Dach! Sieben EDV-Spezialisten wurden aufgeboten und kümmerten sich um die Wiederholung des Rechenprozesses. Die Stadtkanzlei konnte die Wahlresultate nicht planmässig verkünden. Die Presse stürzte sich genüsslich auf die Verzögerung. Dabei machten die Stadtverwaltung, die Firma UNIVAC und die Firma Rieter eine etwas unglückliche Figur, da sie sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe schoben. Es war von mangelnder Planung, Kommunikation und Vorbereitung die Rede. Alle betonten aber, dass den Computer keine Schuld traf.

Am Mittwoch, dem 20. März 1974 war es dann soweit und die Wahlergebnisse konnten präsentiert werden. Der Landbote schlug nun versöhnliche Töne an und resümierte: «Es erübrigt sich, das Klageliedlein da capu al fine anzustimmen. Festzuhalten – vielleicht auch zuhanden einer amüsierten Nachwelt – bleibt lediglich, dass in der Hitze des Gefechtes begreiflicherweise da und dort ein unbedachtes Wort gefallen ist. Es gab Scharmützel und rote Köpfe, aber guter helvetischer Brauch – die Aussprache – gewann am Ende die Oberhand. Man darf deshalb das unerquickliche Thema einstweilen getrost zu den Akten legen.»

Das computergestützte Verfahren überlebte seinen Fehlstart und kam 1978 in einer verbesserten Funktion wieder zum Einsatz und schliesslich schaffte die Stadtverwaltung auch das Auszählen unter weiblicher Beteiligung.

19.12.2021,np
Foto: Diagramm des maschinell gestützten Auszählverfahrens, Stadtarchiv Winterthur
Musik: Night Rider by Ian Post

1974_Maschinelle-Ermittlung-der-Wahlresultat

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