50 Jahre Frauenstimmrecht

Erste Tagung des Gemeinderates im frisch renovierten Rathaussaal am 30.10.1970. Die Frauen sitzen protestierend auf der Zuschauertribüne (Foto: winbib, Fotograf unbekannt)

Rekurs!

Der Abstimmungskrimi von 1969

«Die Frauen, die endlich wenigstens auf das Stimm- und Wahlrecht in Gemeindeangelegenheiten hofften, sind auf das Wochenende erneut enttäuscht worden. 34 Gemeinden im Kanton entschieden sich neu für das Stimm- und Wahlrecht der Frau – Winterthur bildet weiterhin eine glanzvolle Ausnahme.»

Von Nadia Pettannice

Auf diese Weise brachte eine Winterthurerin ihre Enttäuschung über die denkwürdigen Vorgänge rund um die Abstimmung vom 30. November 1969 zum Ausdruck und sie fragte sich, «wie viel Wasser muss wohl noch die Eulach hinabfliessen» bis das Frauenstimmrecht endlich auch in Winterthur eingeführt würde? Was war geschehen?

Schon seit dem Januar 1969 bereitete der Kanton Zürich eine Abstimmung über die Ergänzung von Art. 16. der Staatsverfassung vor. Diese Änderung schaffte die Grundlage für die Einführung des Frauenstimmrechts auf Gemeindeebene. Der Stadtrat erwartete ein deutliches Ja zur Vorlage und wollte von dem neuen Recht schnellstmöglich Gebrauch machen. Deshalb beantragte er, die kommunale Abstimmung gleich auf dasselbe Datum zu legen wie die kantonale, nämlich auf den 14. September 1969.

Am 3. Juni 1969 wurde eine von 812 Stimmberechtigten unterzeichnete Volksmotion eingereicht, welche forderte, dass im Falle einer Annahme der kantonalen Frauenstimmrechtsvorlage vor der Abstimmung auf Gemeindeebene noch eine separate Abstimmung unter den Männern durchgeführt werden sollte mit der Frage, ob die Frauen zuerst noch darüber befragt werden sollten, ob sie das Stimmrecht überhaupt wollen.

Es handelte sich dabei um eine gezielte Verzögerungstaktik. Angeführt wurde das «Initiativkomitee für Frauenbefragung» vom Rechtsanwalt Rudolf Riedi und dem Arzt Ernst Stiefel. Der Stadtrat prüfte die Motion und legte dem Grossen Gemeinderat ein Gutachten vor. Darin wurde festgehalten, dass eine Frauenbefragung technisch möglich sei, denn «auf Grund des im kirchlichen Bereich schon bestehenden Frauenstimm- und -wahlrechtes sind die Stimmausweise für die Frauen praktisch vollständig vorhanden (Es fehlen nur noch die Stimmrechtsausweise der konfessionslosen Frauen).» Problematisch war jedoch die Tatsache, dass die Motion eine Frauenbefragung im Nachgang der kantonalen Abstimmung verlangte, was im Widerspruch zum stadträtlichen Antrag stand. Um den Initiativtext nicht zu verletzen, schlug der Stadtrat vor, die kommunale Abstimmung zu verschieben. Dies bedeutete jedoch, dass sich die faktische Einführung des Frauenstimmrechts auf Gemeindeebene mindestens bis in den Frühling 1970 verzögert hätte.

Der Grosse Gemeinderat wollte diese Verzögerung nicht hinnehmen und legte die Frauenbefragung und kommunale Frauenstimmrechtsabstimmung auf dasselbe Datum, nämlich den 30. November 1969. Damit wurde wissentlich rechtsunsicheres Terrain betreten, was von den Motionären genüsslich ausgeschlachtet wurde. Drei Tage vor dem Urnengang legten sie beim Bezirksrat Rekurs ein. Die Abstimmung selbst war zu diesem Zeitpunkt bereits im Gange und konnte nicht mehr abgebrochen werden. Der Stadtrat beschloss jedoch auf eine Stimmauszählung zu verzichten, bis der hängige Rekurs rechtlich beurteilt wurde. Damit war das Chaos in Winterthur perfekt. Die Wahlurnen blieben versiegelt und die Frauen sahen sich um ihre Wahlberechtigung betrogen. Auch im Grossen Gemeinderat herrschte dicke Luft.

Der Bezirksrat wies den Rekurs im Dezember 1969 ab. Am 27. Januar konnten die Stimmen endlich ausgezählt werden. Die stimmberechtigten Männer hatten die sofortige Einführung des Frauenstimmrechts mit 8136 zu 6298 Stimmen gutgeheissen. Auch gegen diese Auszählung legten die Gegner Rekurs ein. Der ganze Rekursreigen endete schliesslich in einer Zurückweisung durch den Zürcher Regierungsrat, und zwar am 17. April 1970. Das Bundesgericht wollten die Rekurrenten nicht mehr bemühen. Ihr Ziel hatten sie ohnehin erreicht: Die Frauen wurden um die Gemeinderatswahlen von 1970 gebracht … und so sassen im frisch renovierten Gemeinderatssaal nur Männer in den ersten Reihen. Scharf beobachtet von protestierenden Frauen, die sich zum letzten Mal mit der Zuschauertribüne begnügen mussten.

01.11..21, np
Foto: Aufruf des Initiativkomitees für Frauenbefragung von 1969 (STAW II B 1)
Soundtrack: Caution (GOOD Remix) by Skrxlla

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